Thomas Röske: Ein einseitiger Dialog?

Aus dem Katalog:
„In Persern Büchern steht’s geschrieben“
Kunstverein Göttingen, Museum für Angewandte Kunst Frankfurt, Samm­lung Prinzhorn Heidelberg, 2004

 

Thomas Röske

Ein einseitiger Dialog?
Jörg Ahrnt und Ludwig Wilde

Immer wieder haben Künstler über Werke der Heidelberger Sammlung gestaunt und darauf reagiert. Dabei lässt sich schon für Ernst Ludwig Kirchner und Oskar Schlemmer zeigen, was für viele spätere ebenso gilt: Sie entdecken, was sie suchen. Sie sind fasziniert von Werken, die ein ähnliches gestalterisches Problem zu behandeln scheinen wie sie selbst gerade. Diese Erkenntnis klingt trivial. Sie ist es nicht, wenn man bedenkt, dass die Sammlung Prinzhorn aus einer Vielfalt von Werken auf Papier, auf Leinwand, aus Holz und Textilien besteht, die teilweise noch heute, nach Jahrzehnten revolutionierender Kunst, fremd und unverständlich wirken. Der Fund eines Einzelnen und sein Umgang damit kann vielen die Augen öffnen.

Auch Jörg Ahrnt hat in der Sammlung Prinzhorn eine Antwort gefunden – ohne dass ihm die Frage bewusst war. Dass ihn gerade die Assoziation von „Persischem“ zu den bislang kaum beachteten Zeichnungen Ludwig Wildes zog, kommt indessen nicht von ungefähr: Ahrnt befasst sich seit längerem mit islamischer Kultur, hat bereits einige Reisen in den Iran unternommen und im Herbst 2003 das erste Mal eigene Zeichnungen in Teheran und Shiraz ausgestellt.

Im Leben Ludwig Wildes (1865 – ?) deutet zunächst nichts auf einen solchen Fokus, folgen wir den Aufzeichnungen der Krankenakte. Der vermögende Weinhändler aus Neustadt/Weinstraße war 1908 in die Kreisanstalt für Geisteskranke zu Klingenmünster, Landeck, eingewiesen worden. Seit 1900 trunksüchtig hatte er 1907 Verfolgungsängste entwickelt und begonnen Stimmen zu hören. Als er schließlich gewalttätig wurde und von Selbstmord sprach, veranlassten seine Angehörigen die Internierung. In der Klinik schlug die Stimmung um. Wilde glaubte, Napoleon zu sein, zuweilen auch der Bayerische König Ludwig II. Schon 1909 wurde er entmündigt. Sein Zustand blieb in den folgenden Jahren unverändert. 1925 verlegte man ihn aus unbekannten Gründen nach Bamberg, wo sich seine Spur verliert. Vermutlich blieb er, wie viele Insassen damals, bis zu seinem Tod in einer Anstalt.

Die Krankenakte aus Landeck ist nicht regelmäßig geführt.1 Nach 1909 gibt es lange keine Einträge mehr. Erst 1919 notierte ein Arzt einen kurzen Rückblick auf die vergangenen zehn Jahre. Darin heißt es: „Dann macht er noch Zeichnungen, die in einer fortlaufenden raumfüllenden Linienführung bestehen & in denen nach seiner Annahme alle Wissenszweige enthalten sind.“ Kurz darauf werden diese Werke noch einmal erwähnt, als „Curven u. Linien, in denen, wie er annimmt, die Wissenschaften u. Künste enthalten seien“. Obgleich Wilde ihnen also erhebliche Bedeutung beimaß, wahrscheinlich weil sie ihm halfen, seine Würde und Individualität zu bewahren, ist das alles, was man wert fand, darüber aufzuzeichnen. Wann Wilde mit Zeichnen begonnen hat, bleibt ebenso unerwähnt wie der Umfang seines Schaffens. Das 26-seitige Notizbuch mit 41 Zeichnungen und einigen Texten (das wegen Anspielungen auf den Krieg darin nach 1914 entstanden sein muss) und die wenigen Einzelblätter von ihm, die sich in Heidelberg befinden, kamen 1919 oder 1920 aus Landeck. Sie wurden in Reaktion auf eine der Anfragen für ein zu gründendes „Museum für pathologische Kunst“ ­geschickt, die der Kunsthistoriker und Mediziner Hans Prinzhorn (1886–1933) damals vor allem an psychiatrische Einrichtungen im deutschsprachigen Raum ausgesendet hat. In seinem Buch „Bildnerei der Geisteskranken“ (1922) zeigt Prinzhorn immerhin vier Zeichnungen Wildes 2, geht aber nur kursorisch darauf ein. Er sieht darin Beispiele für „den entscheidenden Schritt über das […] Urstadium des Zeichnens hinaus“: Von der „objektfreien, ungeordneten Kritzelei“ unterscheiden sich diese Blätter für ihn dadurch, dass sich ihre Elemente „als noch so primitive Formindividuen nach Regeln auf der Fläche ordnen.“ Später erwähnt er die Blätter ein weiteres Mal, als „bizarr spielerische Gebilde“ und „Arabesken“3 – denkt aber sicherlich nicht ernsthaft an Orientalisches.

Dabei ist die Nähe zu persischen Mustern tatsächlich verblüffend, wie die Gegenüberstellungen in dieser Ausstellung belegen. Wilde, der das Gymnasium besucht hat und „unter günstigen Einflüssen in bester Erziehung“ heranwuchs, hat vermutlich Goethes „West-östlichen Divan“ gekannt (Abb. Seite 90) und von jüngeren politischen wie kulturellen Beziehungen Deutschlands zu Persien (siehe den Beitrag von Oliver Bast) gewusst. Auf die Kenntnis orientalisierender Literatur lassen Überschriften der Notizbuch-Texte, wie „Ursprungs-Sprüche“ und „Weisheitssprüche“, schließen. Auch Wildes gelegentliche Preisung des Weins findet in solchen Schriften Rückhalt. Das Besondere an Wildes Zeichnungen ist aber, dass sie eine individuelle Form entwickeln, die das Gegenteil bildet zum selbstherrlichen Gestus der Moderne, wie ihn vor allem der zeitgleiche Expressionismus vorführt – und die in ihrer Kleinteiligkeit und meditativen Stimmung konträr selbst zu heutigen Pattern-Paintings, etwa von Christopher Wool oder Philipp Taafee, steht. Der Stift wurde in kleinen Windungen so lange geduldig über das Papier bewegt, bis die frei entworfenen Formen gleichmäßig ausgefüllt waren. Mit diesem Verfahren brachte Wilde eine Vielfalt von Zeichnungen hervor, die sich sowohl durch die Form und die Dichte der wiederholten Kürzel als auch in der Gesamtgestalt unterscheiden: Mal entstand ein auswucherndes amöbenhaftes Gebilde, mal eine strenge Ordnung verschieden großer Kartuschen, mal eine Art komplexer Initiale aus der freien Verteilung ähnlicher organischer Formen. Über manche seiner Ornamentkörper legte er Punkte oder Linienschwünge, die an Schriftzeichen erinnern, und gelegentlich fügte er mit bekrönten oder behelmten Gesichtern auf kugelartigen Büsten ein groteskes figuratives Element hinzu.

Vielleicht hat für Wildes Entdeckung persischer Kunst das Neorokoko des Jugendstils eine Rolle gespielt; vielleicht hat der Weinhändler mit den detailreichen Mustern sympathisiert, weil sie internalisierte bürgerliche Tugenden der Zeit, wie Bescheidenheit, Präzision, Sorgfalt, berührten; vielleicht ist die Parallele zu den Kritzelzeichnungen von WOLS, Henri Michaux wie auch von Horst Janssen kein Zufall, und es zeigt sich darin ein Reflex ähnlicher optischer Erfahrungen unter Rauschmitteln, wie Alkohol und Meskalin (Wildes Überzeugung, in einem für das Alltagsbewusstsein nichtssagenden Muster werde das Geheimnis der Welt offenbart, begegnet auch in Berichten von Erfahrungen mit psychoaktiven Substanzen). Entscheidend ist, dass sie nicht eines der Orient-Klischees wiederholen, von denen die Kunstgeschichte seit dem 16. Jahrhundert zehrt. Es geht Wilde nicht um Säbel, Pferde und schöne dunkelhaarige Frauen, Opium, Blumen und starke Farbkontraste, sondern um eine spielerische Annäherung an die Sprache islamischer Ornamente.

In zeichnerischen Studien, die einzelne Elemente von Wildes Duktus nachahmen und komplexe Strukturen daraus aufbauen, hat Ahrnt der spezifischen Qualität dieser Blätter nachgespürt. So konnte er nachweisen, dass Wilde über Begabung und längere Übung verfügte. Es handelt sich eben nicht um übergeschichtliche Werke eines weltabgewandten psychiatrischen Patienten, bloße Eruptionen des Unbewussten – dieser Mythos über die „Bildnerei der Geisteskranken“ wurde fortgeschrieben seit Prinzhorn („sie wissen nicht, was sie tun“4). Wildes Zeichnungen sind vielmehr die erstaunlichen kreativen Leistungen eines Mannes, der sich durch seine psychische Erkrankung und die folgende Internierung in eine gesellschaftliche Randposition versetzt sieht. Dieses Abseits führt, obgleich Wilde in der selben Bildkultur wie seine Zeitgenossen aufgewachsen ist, zu Differenzen vom Üblichen, die nicht selten allerdings die damalige Realität durchdringen und erhellen. Dazu gehört die weniger künstlerische als vielmehr kunsthandwerkliche Haltung seiner Zeichnungen. In ihnen versucht der Weinhändler, sich über die Struktur von Musterbildungen dem faszinierend Fremden zu nähern. Seine einfühlende Auseinandersetzung mit den Reizen der exotischen islamischen Kultur scheint seine eigene „exotische“ Position innerhalb der Gesellschaft zu reflektieren – seine Anpassungswünsche wie seine Fremdheit.

Die Konstellation der Exponate unserer Ausstellung intensiviert zugleich das Wahrnehmen der neuen Zeichnungen Ahrnts. Er sucht schon länger die Auseinandersetzung mit islamischer Kultur jenseits ausgetretener Pfade des Exotismus, die, gerade wenn nur aktuelle westliche Perspektiven oder in den Medien verbreitete Klischees aufgegriffen werden, fast zwangsläufig zum Ethno-Kitsch führen. Wildes Ornamentblätter faszinieren Ahrnt, weil mit ihnen aus der historischen Position eines gesellschaftlichen Abseits unvermutet ein unverstellter Blick auf diese fremde Welt gelungen ist. Der Versuch, die Entstehung dieser Zeichnungen, ihre kulturellen wie gestalterischen Voraussetzungen, nachzuvollziehen, half ihm beim Klären seiner eigenen Position

Ahrnts Zeichnungen gehen seit längerer Zeit konzeptuell von kleinteiligen Bewegungen der zeichnenden Hand aus. Formen entstehen durch Addition solcher Bewegungsniederschläge. Dieser „Wachstumsprozess“ führt zu einem gemessenen, meditativen Charakter der Blätter. Dabei wird der Papiergrund, Spielfeld einer Anzahl ähnlicher zeichnerischer Gebilde, oftmals zu einem ungreifbaren Raum. Ein Gefühl des Schwebens stellt sich ein. In den letzten Jahren hat sich das gestalterische Interesse Ahrnts auf die Reihung und das Zusammenspiel von Kugeln verdichtet, kleinsten schein-plastischen Einheiten. Mit diesen sozusagen minimal gegenständlichen Motiven begab sich der Zeichner zugleich bewusst in einen spezifischen kulturübergreifenden Assoziationsraum, denn Kugelketten, gerade auch mit religiöser Bedeutung, finden sich im Osten wie im Westen (etwa Rosenkränze).

Von solchem Illusionismus hat Ahrnt sich in seinen jüngsten Blättern wieder gelöst. Seine neuen Konstellationen zeichnerischer Spurenelemente entfalten sich in der Fläche. Der Bezug auf die Muster Wildes ist deutlich. Wie dieser zuweilen legt Ahrnt symmetrische Ordnungen an und spielt dadurch mit dem Charakter kunsthandwerklichen Schmucks. Auch die Nähe zu persischen Ornamenten, ohne dass diese eigentliche imitiert würden, lässt sich vergleichen. Anders als bei Wilde ist dagegen das Arbeiten mit Weiß auf Schwarz, die größere Vereinfachung der zeichnerischen Grundbewegungen sowie der Objektcharakter der Blätter, der sich durch das Einfärben des kräftigen weißen Papiers mit schwarzer Tusche ergibt. Folge dieser Eigenheiten ist die Illusion, man halte mit einem solchen Blatt ein Stück Kosmos in Händen – auch dies erinnert allerdings wiederum an traditionelle persische Werke.

Die letzten Blätter konzentrieren sich auf die Ausgestaltung einer ovalen Form aus einer Vielzahl kleiner Punkte und Sterne, die sich um ein fast leeres Zentrum ordnen. Ahrnts Erfahrung aus seinen voran gegangenen Zeichnungen verhilft ihm hier zu einer erstaunlichen Sicherheit in der Verdichtung seiner Kompositionen. Das Spiel mit kleinsten Veränderungen im Verhältnis der Elemente zueinander und mit dem Einbeziehen des schwarzen Grundes führt zu einer verblüffenden Vielfalt bei gleichbleibender Komplexität, deren optischer Faszination man sich nicht entziehen kann. Mal ist die Form erfüllt von einem pulsierenden Ausstrahlen der Mitte, mal von einem konzentrischen Sog, mal wirkt die feine Netzstruktur der Sterne und Punkte wie ekstatisch verfestigt. In der rauschhaften Wirkung, die Ahrnt hier erreicht, scheint er den Zeichnungen Wildes am nächsten zu kommen.

Die Neuerungen des zeichnerischen Vokabulars und sein Assoziationsraum wirken sich auf die Skulpturen Ahrnts aus, die, wie seine Gemälde, eine eigene Entwicklung mit eigener Motivik haben. Hier hält der Künstler an der menschlichen Figur in einer Haltung des Fliegens oder Schwebens fest. Die „unmög­liche“ Position, die insbesondere bei Werken aus schwerem Metall provoziert, erlaubt dem Betrachter, über körperliches Einfühlen an der Atmosphäre der Zeichnungen teilzuhaben. Vielfach sternförmig eingekerbt nehmen die Oberflächen der neuen, schwarzen Bronzen von deren Vokabular auf. Das Musterkleid macht sie zu Astronauten, Sternreisenden im eigentlichen Sinne.

Indem Ahrnt sich mit seinen Zeichnungen der künstlerischen Sprache der persischen Kultur vorsichtig annähert, verliert er nicht sein Staunen vor dem faszinierend Fremden aus dem Blick. Er möchte verstehen, aber von innen heraus, durch das Einlassen auf die ungewohnte Struktur, nicht nur von außen, durch das Abfragen vertrauter Kategorien. Die ungewöhnlichen Blätter eines Anstaltspatienten aus der Zeit des Ersten Weltkriegs bilden dabei eine bewusst beschrittene Brücke. Ahrnts Auseinandersetzungen mit den Zeichnungen Ludwig Wildes bringen aber auch diese zum Sprechen. Wir können hier, hören wir nur richtig zu, einem aufschlussreichen Dialog folgen.

1
Krankenakte Ludwig Wilde, Kreis-Heil- und Pflege-Anstalt Klingenmünster, Kopie im Archiv der Sammlung Prinzhorn, Heidelberg. Auch die folgenden, z.T. wörtlich wieder gegebenen Angaben sind – sofern nicht anders gekennzeichnet – dieser Akte entnommen.
2
Bei zweien handelt es sich um Seiten aus dem Notizbuch, die offenbar wegen des Reproduktionsprozesses herausgetrennt worden sind.
3
Hans Prinzhorn, Bildnerei der Geisteskranken. Ein Beitrag zur Psychologie und Psychopathologie der Gestaltung, Berlin 1922, S. 61 und 63.
4
Ebd., S. 343.