Wie strömendes Wasser | Text

Wie strömendes Wasser
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Aus dem Katalog: „Wie strömendes Wasser“
Kerber Verlag, 2010

 

Martina Weinhart

Wasser, Staub, Wellen und Weltbild — Der Orient und der Westen in der Arbeit von Jörg Ahrnt

 

Eine Zeichnung. Ich schaue sie lange an: In zarten Schwüngen sind feine Linien gesetzt, die sich in regelmäßigen Formationen über das Blatt ziehen. Sie ergeben ein Gleichmaß der Formen, der Zeichen, der Striche und der Leere des Blattes. Ruhig und ebenmäßig sind sie einerseits, aber auch dynamisch, drängend. Die Striche mäandern über das Blatt, nehmen es großflächig in Besitz und erzeugen so ein All-over, das sich ins Unendliche fortzusetzen scheint. In strengen Parallelen schieben sich die Formen bis über das Bild hinaus. Gleichzeitig flirrt und vibriert die ganze Fläche, irritiert das Auge in seiner Wahrnehmung. Dabei oszilliert das Blatt zwischen Abstraktion und Gegenständlichkeit und hat insgesamt etwas fassbar Konkretes, das es auch gegenständlich lesbar macht. In ihren blauen und grünen Farbverläufen erinnern die Linien der Darstellung unmissverständlich an Wellen und Wasser. Die Leerstellen ergeben kleine, verspielte Ornamente. Das Wasser scheint sich zu kräuseln. Vielleicht sind es Lichtreflexe auf einem Fluss, einem See. Das Meer ist es sicher nicht, denn das Bild hat nichts Gewaltiges oder gar Monumentales. Alles spricht für den Fluss, hat doch das Blatt ein entschieden längliches Format, fast wie eine Schriftrolle oder eine Tapete. Tatsächlich handelt es sich um eine Flusslandschaft, die Jörg Ahrnt wieder und wieder im Bild festhält. Wie eine Übung zeichnet er Blatt für Blatt, und so ist eine ganze Serie entstanden. Mit ruhiger Hand setzt er als Zen-Meister der Tusche die ebenmäßigen Linienzüge aufs Papier. Konzentration, Versenkung und Beharrlichkeit bestimmen seinen künstlerischen Prozess. Die Wiederholung ist das bestimmende Motiv. Verfolgt man die Serie von Anfang an, so kann man aber auch das Suchen und Ausprobieren des Künstlers an dieser Zeichenroutine ablesen, die aus einem prozesshaften Wechselspiel von Monotonie und Abweichung besteht. Variationen bestimmen vor allem die frühen Blätter der Reihe, die sich zudem durch ein Experimentieren mit dem Format auszeichnen. Hier findet man kleine Blätter in konventionellem A4-Format, größere und schließlich raumgreifende, entschiedene Querformate. Manche enthalten regelrechte Fingerübungen. Das Ausprobieren und systematische Ausarbeiten einer Grammatik des Ornaments belegen clusterhafte Formationen, die vereinzelt auf dem leeren Blatt stehen und so die Arbeit an den einzelnen Handbewegungen und Linienschwüngen dokumentieren. Andere Zeichnungen ergeben eher chaotische Muster, die noch nichts mit der Spannung aus Dynamik und Strenge der späteren Blätter gemeinsam haben. Auch in ­ihnen kann man den Verweis auf das Wasser lesen, hier ­assoziiert man aber eher die kleinteilige, ­strudelnde Fläche ohne Richtung. Die Farbskala, die sich in den späteren Blättern aus einer elaborierten Palette hauptsächlich grüner und blauer, manchmal gelb-rötlicher Töne ergibt, zeigt hier eher dezidierte Kontraste. Auf diese Weise entwickeln sich Ahrnts Arbeiten der Serie von chaotischen Wellen, deren Kraft keine Richtung hat, hin zu einer Ornamentik der wohlgesetzten, ausponderierten Sprache harmonischer Natur in delikaten Farbverläufen.

Mit dieser Zeichenroutine, die man fast ein Ritual nennen kann, hat sich Ahrnt einer anderen Kunst, einem anderen Kunstwerk, genähert, bei dem es sich auch um eine Flusslandschaft handelt – allerdings einer längst vergangenen Kultur. Den Ausgangspunkt stellt die Begegnung mit einem kleinen Blatt dar, auf das der Künstler 2005 bei einer Recherche anlässlich seiner Ausstellung im Museum für Islamische Kunst in Berlin gestoßen war. Auf der Suche nach Darstellungen, die figurative Aspekte mit dem Ornamentalen verbinden, hatte er die Staatsbibliothek durchstöbert und dabei jene Flusslandschaft aus dem 14. Jahrhundert gefunden, die vermutlich aus Zentralasien, wahrscheinlich aus dem Iran stammt – ein Blatt von großer Kraft: In strengem grafischen Muster zieht ein Fluss durch eine dagegen geradezu expressiv wirkende, teils fein aquarellierte Landschaft. Fast abstrakt und aus der Logik der Erzählung des Blattes kaum abzuleiten, türmen sich dazwischen kraftvoll gefärbte Wellenberge. Doch ist es nicht allein die ästhetische Anmutung der Arbeit, sondern ihre spezifische Geschichte, die sie auszeichnet. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts hatte sie der preußische Botschafter von Konstantinopel, Heinrich Friedrich von Diez, nach Berlin gebracht als Teil einer Sammlung von Zeichnungen und Miniaturmalereien persischen, chinesischen, osmanischen und europäischen Ursprungs, die nun in einer Mappe unterschiedlichster Artefakte vereint sind. Solchermaßen dekontextualisiert und ihrem kulturellen Umfeld und ihrer Funktion entrissen, sind die Arbeiten dieser Mappe nur noch strukturell zu lesen. Ihre Bedeutung ist unmittelbar aus dem Befund des Auges zu ziehen. Und so sucht der geschärfte Blick nach Einflüssen, Gemeinsamkeiten, lokalen und nationalen Besonderheiten. Auf diese Weise gibt das Blatt den Anstoß zu einer komplexen Reflexion über die Wanderung von Formen, zeichnerischen Formeln und Ornamenten – nicht zuletzt stellt es aber auch ganz grundsätzliche Fragen nach kultureller Identität und kulturellem Wandel.

Fragt man Jörg Ahrnt, so sind es vor allem diese Aspekte, die ihn – gespiegelt in diesem Blatt – selbst beschäftigen. So berichtet er vor allem von seiner Faszination durch die unterschiedlichen kulturellen Einflüsse auf diese Zeichnung, die auf ganz spezifische Art und Weise persische mit chinesischen Elementen und Einflüssen verbindet. Ahrnt ist tief in diese Thematik eingetaucht und diesem historischen Werk mit beinahe wissenschaftlicher Akribie nachgegangen, hat Orientalisten kontaktiert, lange Diskussionen und Korrespondenzen geführt und eingehende Lektüre betrieben. So bringt er einen konzeptuellen Begriff des Zeichnens mit Fertigkeit und Können des Freihandzeichnens zusammen – an sich gegensätzliche Pole, denkt man an den geringen Stellenwert, den die Konzeptkunst des 20. Jahrhunderts, die ja gerade die Idee der Meisterschaft überwinden wollte, der Ausführung eines Werkes selbst beimisst. Ahrnt arbeitet genau an dieser Linie entlang. Das Mantra, das Rituelle und das Zeremonielle – allesamt Traditionen der asiatischen Kultur – verbindet er mit unseren zeitgenössischen Praktiken der Reflexion durch Aneignung. Nicht nur in diesem Aspekt lässt Jörg Ahrnt westliche mit östlichen, orientalischen Kulturtechniken zusammentreffen.

In seinen Zeichnungen greift Ahrnt sowohl in der Form wie auch in der Farbgebung die Traditionen der islamischen Miniaturmalerei und der Kalligrafie auf, um sie in Dialog mit dem Westen zu bringen, und macht sich damit zum Teil eines Transfers, der eigentlich in beständigem Fluss ist und auf eine lange Geschichte zurückzublicken vermag. Dies zeigt uns die kleine Flusslandschaft aus dem 14. Jahrhundert mehr als deutlich. Ahrnt betreibt eine behutsame, beharrliche, iterative Annäherung an die fremde Kultur. Er sucht gleichsam in der stetigen Wiederholung der Ornamente nach der Brücke zwischen den Kulturen und findet sie letztlich dort, wo wir es selbst am stärksten vergegenwärtigen: im Kleinen, Unspektakulären, vor allem aber im Wandel und im täglichen Prozess, an dem man immer wieder arbeiten muss. Er ist lang und langsam und kaum merklichen Verschiebungen unterworfen.

Die Orientrezeption und überhaupt die Begegnung mit dem Iran und seiner Kunst bestimmen das gesamte künstlerische Schaffen von Jörg Ahrnt. Seine Praxis ist also geprägt von den Durchdringungen der unterschiedlichen Kulturen und Kulturtechniken und ihren je verschiedenen Kontexten. Er, der seine Zeit seit Jahren immer wieder dort verbringt, lässt seine Arbeit aus dem engen Kontakt mit der iranischen Kunst entstehen, mit der er durch seine unzähligen Reisen, Begegnungen und Freundschaften mit Künstlern vor Ort und seine Ausstellungen vor allem in Teheran bestens vertraut ist. Eine ganze Reihe von Fotografien, die auf diesen Reisen entstanden sind, setzen sich auf einer anderen Ebene mit den Realitäten dieser Thematik auseinander. Diese Realität hat nichts mehr gemein mit den vom Menschen unberührten Gegenden. Sie zeigen die Landschaften des Iran jenseits von Idylle und nostalgischer Betrachtung: Die Flüsse sind ausgetrocknet, zum Erstaunen des Künstlers parken Busse ­darin. Ein anderes Flussbett ist asphaltiert und zu einem Parkplatz umfunktioniert worden. Diese Bilder konfrontiert er mit modernsten Innenräumen, ausgestattet mit Hightech. Da ist der Friseursalon mit Flachbildschirm vor jedem Sitz, der Pool, das opulent ausgestattete Aquarium. Die Fotografien spiegeln den Gegensatz, der zwischen der Archaik des agrarischen Lebens und dem wuchtigen Einbruch der Moderne besteht. Letztlich spiegeln sich die traditionelle Zeichentechnik und die moderne Realität, wie sie in den Fotografien fest­gehalten wird, ineinander und nähern sich in dieser gegenseitigen Überlagerung der Widersprüchlichkeit des Iran und nicht zuletzt natürlich den Widersprüchen und Gemeinsamkeiten von Ost und West.