Eröffnungsrede zur Ausstellung
„Maker Unknown“
Weißfrauen Diakoniekirche, Frankfurt am Main, 2012
Peter Cross
Maker Unknown
Lassen Sie mich auf pragmatische Weise beginnen.
Ich beginne mit einem Zufall. Im Sommer 2009 fand Jörg Ahrnt einen Teppich auf der Straße liegen. Als er ihn in seinem Atelier ausrollte, wusste er sofort, dass er etwas Außergewöhnliches und Schönes gefunden hatte. Es war ein Kilim, nahezu unbeschadet erhalten. Ein kleines leinenes Schild hing daran, auf dem mit Tinte die Größe, 3,5 × 1,35 m, notiert war.
Jörg Ahrnts erste Frage: „Was soll ich damit tun?“, war der Ausgangspunkt für sein Projekt.
Der Schlusspunkt, oder der Punkt, den der Künstler erreichte, ist hier vor uns. Der gereinigte Kilim liegt auf einer Art Bühne, die ihn vom Boden trennt, auf einer geneigten Oberfläche, so dass seine vier Ecken unterschiedliche Höhe einnehmen. Die Bühne ist niedrig, aber aufgebaut wie hier, ist der Kilim vom Eingang unsichtbar, so dass der Besucher ihm erst begegnet, nachdem er den stützenden Unterbau gesehen hat.
Die Oberfläche des Unterbaus besteht aus regelmäßig angeordneten rechteckigen Platten, die auf einem Holzgerüst liegen. Der gesamte Unterbau besteht aus MDF und ist schwarz gebeizt. Die Maße der schwarzen Platten orientieren sich an dem Muster, das den Kilim selbst strukturiert, wodurch dieses Muster in den Ausstellungsraum fortgesetzt wird.
Der neutrale Unterbau nimmt bestimmte Elemente des Kilims auf, aber lässt ihn als ein in sich geschlossenes besonderes Objekt bestehen. Die Orientierung der Installation im Raum und die Gestaltung des Unterbaus sorgen dafür, dass der Kilim nicht zu einem klassischen musealen Objekt oder neutral gerahmt wird. Jörg Ahrnt scheint nach einer Funktion zu fragen, nach dem Status oder dem Wert des Objekts, das er uns präsentiert. Sicherlich hat der Kilim all das schon?
Tatsächlich konfrontiert uns die Installation mit einer Reihe von Problemen oder Irritationen, die uns nach dem Status der verschiedenen Elemente fragen lassen, wie sie zusammenpassen oder was sie ausdrücken sollen. Unsere erlernte Reaktion einem ausgestellten Kilim gegenüber ist, die Muster, Farben und andere seiner Elemente zu wertschätzen, mit mehr oder weniger Kennerschaft, als ein Artefakt einer anderen Kultur. Die Ausstellungspräsentation trennt den Kilim von unserer eigenen Erfahrung. Jörg Ahrnts Installation unterbindet irgendwie diese gewöhnliche Reaktion, wenn auch nicht ganz. Andererseits scheint sie eine Art von Interpretation oder Analyse zu bieten. Indem die auf dem Kilim selbst basierende Felderung in den Raum fortgeführt wird, legt sie ein dynamisches Verhältnis zum Raum nahe, und damit zum Betrachter.
Was nach Ahrnts erster Begegnung mit dem Kilim geschah, ist eine typische Form künstlerischer Forschung. Künstlerische Forschung – dieser mittlerweile vertraute Begriff, der überall in Programmen von Museen, Galerien und Akadmien auftaucht – ereignet sich, wenn ein Künstler ein nichtkünstlerisches Objekt oder Phänomen seiner Arbeitspraxis integriert. Es ist eine parallele Aktivität zum Herstellen von Kunst selbst, aber komplementär dazu, und besonders heute verschwimmen die Unterschiede zwischen Forschung und Produktion zunehmend. Und doch besteht ein Unterschied. Dieses Fakt selbst erlaubt unerwartete Möglichkeiten und Entdeckungen. Während wissenschaftliche Forschung empirisch ist und auf Sprache basiert, ist künstlerische Forschung frei, ergebnisoffen und kann, indem sie ihre Befragungen und Bewegungen ins Unerwartete und Unbekannte fortsetzt, kritische Intervention im Feld der Wissensproduktion sein. Sie ist zugleich eine Art Tagtraum, eine Gelegenheit, außerhalb der selbstauferlegten Grenzen gewöhnlicher Kunstpraxis zu arbeiten.
Wer das Werk von Jörg Ahrnt kennt, weiß schon, dass es nicht problemlos in ein bestimmtes kulturelles Muster passt, sondern sich bewusst und kritisch zwischen verschiedenen visuellen Kulturen und Sprachen bewegt. Tatsächlich ist gerade diese Ambivalenz seit Jahren Ahrnts Ausgangpunkt. Viele wissen auch, dass er für gewöhnlich in seinem Atelier arbeitet. Die hier vorgestellte Art zu arbeiten, mit einem Objekt anstelle von Künstlermaterialien, ist neu für ihn.
Der Kilim konfrontiert uns mit einem weiteren Problem oder einer Reihe von Problemen. Man könnte sagen, Jörg Ahrnts anfängliche Forschung war typisch ethnographisch: den Kilim mit einer Reihe von mehr oder weniger verlässlichen oder normativen Referenzen in Beziehung zu setzen. Das war ein Kategorisierungsprozess. Im Austausch mit Teppichhändlern und Orientalisten erfuhr er, dass der Teppich mehr als 100 Jahre alt und hergestellt worden ist in dem heutigen östlichen Teil der Türkei, eine Region, die ehemals „Ararat Plateau“ genannt wurde, einer der ältesten Orte der Zivilisation. Dieses große Gebiet gehörte einmal zum Armenischen Reich, die Armenische Kirche war dort besonders einflussreich. Das Plateau ist berühmt für die Qualität des Kunsthandwerks und der Handarbeiten dort. Für Jahrtausende wurde es von vielen verschiedenen ethnischen Gruppen besiedelt. In seiner langen Geschichte unter persischer, byzantinischer, ottomanischer und russischer Herrschaft war es ein Kreuzungspunkt für Handel und kulturellen Austausch. Diese Vielfalt wurde am Anfang des 20. Jahrhunderts durch die Errichtung eines Nationalstaates und seiner Idee ethnischer Konsistenz erschüttert, die zu Rassismus, Verfolgung und ethnischer Reinigung führte. Wie Jörg Ahrnt bei seiner eigenen „Feldstudie“ entdeckte, sind in jüngerer Zeit alle Spuren jener Kultur und der Umstände, die den Kilim erschaffen haben, verschwunden. Heute beanspruchen verschiedene ethnische Gruppen das Gebiet als ihr Land.
Inzwischen fällt es schwer, den Kilim einzuordnen. Kilims entziehen sich, wie wir sehen werden, ethnographischer Kategorisierung, eben weil sie eine grundlegende Identität als Objekte haben. Einige Teppichexperten identifizierten ost-anatolische, andere west-armenische Einflüsse. Die Muster, die Farben, die Ornamentierung und die Komposition legen sowohl christliche als auch islamische Einflüsse nahe. Ein weiterer Händler meinte, der Teppich sei kurdisch. Aber nur eine Interpretation räumte die Möglichkeit ein, dass der Kilim Beleg für eine neue, kohärente Sprache ist, die alle diese Einflüsse gleichzeitig repräsentierte.
Stilistisch ist der Kilim verwandt mit dem heute so genannten Gesandten-Teppich, einem der vielen aufgeladenen Symbole, die Hans Holbein der Jüngere 1533 in London um zwei Gesandte am Hofe König Heinrich VIII. von England gemalt hat. Teppiche aus dem Nahen Osten sind in Europa ein Symbol von Reichtum und Macht seit dem frühen Mittelalter. Damals gab es in Europa nichts annähernd Vergleichbares an Fertigkeit und Technologie, um solche Objekte herzustellen. Deshalb assoziiert man sie seit etwa 700 Jahren mit luxuriösem Konsum.
Allerdings waren Herstellung, Rolle und Funktion eines Kilims andere als die eines Teppichs. Ursprünglich, als Teil der Lebenskultur einer nomadischen Gruppe, hatte ein Kilim den doppelten Zweck funktional und symbolisch zu sein. Als wesentliches Überlebensmittel wurden Kilims im jährlichen Arbeitszyklus mit verfügbaren Materialien gemacht, in einer Gesellschaft, die kein Spezialistentum kannte. Und die 400 Jahre, die den Gesandten-Teppich von 1533 von dem Kilim, den Jörg Ahrnt besitzt, trennen, bedeuten nicht unbedingt wesentliche Veränderungen im Entwurf. Hier gibt es zwei wichtige Punkte zu beachten. Der eine ist, dass die lebendige Tradition um das Herstellen von Kilims, der Kontext, in dem sie benutzt wurden, und seine unveränderte Eigenart dafür sorgten, dass niemand die Zusammenstellung der Farben und symbolischen Muster problematisierte. Wenn sie Teil eines alten, zerschlissenen Kilims waren, wurden sie einfach auf einen neuen übertragen. Es gab keine Verbindung zwischen dem Alter und dem Wert eines Objekts: wichtig war sein Inhalt. In gewisser Weise ist diese Idee immer noch Teil der dortigen Kultur. Der zweite Punkt ist, dass Kilims selbst wenig Wert als Tauschobjekte besaßen. Tatsächlich waren sie Objekte anderer Art, gewebt für den einheimischen Gebrauch, nicht als Exportartikel.
Hier ergibt sich ein typisch modernes Problem: Eine Kluft aus Veränderung und sozialem Trauma trennt uns von dieser unveränderten Tradition, die nun zerstört und verloren ist – ein Sturm genannt Fortschritt, um Walter Benjamin zu zitieren. Die nomadische Lebensform ist nun fast vollständig verschwunden. Seit die Bedingungen ihrer Herstellung transformiert wurden, sind Kilims auch Wert- und Tauschobjekte geworden und werden für Export und Handel gefertigt. Sie haben ihre animistische Dimension verloren. Die Tatsache, dass der Kilim auf einer Straße gefunden wurde, bestätigt diesen Verlust.
Jörg Ahrnt stand zugleich vor einer anderen Art von Forschungsproblem: dem Problem einer Abwesenheit von Sprache. Er bemerkte einen wachsenden Mangel um den Kilim, während er die empirischen Daten vermehrte. Je mehr er über ihn wusste, desto schwieriger wurde es, seinen Ort zu bestimmen. Die Frage, was er mit dem Kilim tun sollte, wurde immer problematischer. Ahrnt las Hölderlin und Hegel, Bücher über den Holocaust, über einige Textilien-Sammler: Morton Feldman, Sigmund Freud, andere mit einer „Sucht“ nach Antikem, wie Stefan Zweig. Ihm wurde klar, dass das Problem eines der Sprache selbst war. Er begann die Sprache zu befragen, die er gebrauchte. Er war angeregt durch Maurice Blanchots gleichzeitiges Befragen und Benutzen der Sprache beim Beschreiben der Abwesenheit, die den Kern von Sprache bildet, wie ein Negativwert. Er entdeckte, dass Künstler in der Abwesenheit – diesem umkämpften Raum – arbeiten sollten, um Sprache mit den Objekten in Einklang zu bringen und mit neuen Möglichkeiten aufzuladen.
Wie schon gesagt war Jörg Ahrnt besessen von den Abwesenheiten und Entfernungen, die ihn von den Herstellern des Kilims trennten, oder, um es anders zu sagen, die im Kilim selbst enthalten sind. Aber er entdeckte auch noch etwas anderes: Gerade indem er diese Differenz eingestand, indem er den Kilim in die Kategorie „Volkskunst“ und sein eigenes Vorgehen in die Kategorie „zeitgenössische Kunst“ einordnete, setzte er den Mythos der Differenz, des Exotischen, des Orientalischen, des „Anderen“ zur kapitalistischen normativen Ordnung fort, die er eigentlich in Frage stellen wollte. In Wirklichkeit hatten auch die Hersteller des Kilims Fragen. Sie waren nicht anders als wir.
Wir leben in einer Kultur, in der die Objekte, die uns umgeben, entweder zunehmend wertlos und entwürdigt werden oder fetischisiert und mythologisiert: irgendwo zwischen IKEA, Sotheby’s und der Müllhalde. Objekte verlieren sofort ihren Wert, wenn wir dafür bezahlen, oder ihr Wert und ihre Bedeutung werden aus ihnen entfernt, bevor wir sie ausrangieren. Die Entfremdung, die dem Konsumismus eingeschrieben ist, schon von Marx Mitte des 19. Jahrhunderts hervorgehoben, stellt alle Objekte in eine normative Ordnung, in der unsere Rolle als Konsumenten wesentlich den Wert verleiht. Ethnographische Forschung spielt eine vergleichbare Rolle im Museum.
Indem er dieses Objekt befragt, ist Jörg Ahrnt sich auch der Grenzen von Interpretation in ethnographischer Forschung selbst bewusst, das Ansammeln von empirischen Daten, das letztlich nur den Objektkörper hinter einem Schirm aus Sprache verbirgt. Seine Frage: „Was soll ich damit tun?“, ist keine normative Frage, sondern zielt auf ein Potential.
So ist schließlich diese Präsentation des Kilims nicht erklärend, nicht ethnographisch. Wir bemerken, dass keine Dokumentation der zwei Jahre Forschung Ahrnts gezeigt wird, die für viele Künstler der komplette Inhalt ihres Werkes wäre. Es gibt kein Herstellen von Geschichte.
Stattdessen ist der Künstler an den Möglichkeiten des Objekts interessiert. „Maker Unknown“ ist ein Projekt, ein dynamischer Prozess, von dem ich und dieser Akt des Sprechens, Lesens und Zuhörens auch einen Teil bilden. Jetzt nehmen Sie, das Publikum, auch eine mögliche Rolle ein.
Das ästhetische Paradimga ist nicht ethnographisch, sondern grenzüberschreitend. Es kreuzt alle Ebenen von Leben und transformiert objektivierende Systeme, arbeitet neben der Trennung von Subjekt und Objekt, um neue Möglichkeiten zu schaffen. Für Jörg Ahrnt ist dieser Kilim ein Kunstwerk, da es keine andere Möglichkeit gibt, ihn zu klassifizieren. Aber dieses Problem ist an sich nicht interessant. Interessant und wichtig ist der Prozess, der an die Fragen um den Kilim heranführt: Abwesenheit, Volkskunst, zeitgenössische Kunst, Orientalismus, Ethnographie, Trauma, Funktion. Wenn dieser Raum der Möglichkeiten eröffnet wurde, dann ist das Projekt erfolgreich gewesen, und es ist Kunst.
Übersetzung von Thomas Röske
Frankfurt/Main, März 2012